Compaq-Laptop und Windows 95

Andreas Seibert-Wussow

Mein erstes Mal: Die Internet-AG und die Folgen

Es muss das Jahr 1997 gewesen sein, den Recherchen nach, obwohl es in meiner Erinnerung eher das Jahr 1996 war. Nun gut, ob es ein Jahr weniger lang her ist oder nicht, macht die Angie auch nicht fett. Auf jeden Fall, gab es zu Beginn eines Schuljahres die Ankündigung, dass es eine neue Schul-AG geben sollte: Die Internet-AG. Dafür hatte die Schule extra zwei oder drei PCs und diesen ominösen Internetzugang angeschafft. Geleitet wurde diese AG von Schülern, weil sich das kein Lehrer zutraute. Der Andrang war nicht besonders groß, aber ich war neugierig. Hatte ich doch als erster in der Klasse einen Amiga 500 und liebte meinen Nintendo. Für mich also eine folgerichtige Entscheidung.

Wie gebe ich ein Passwort ein

An einem Dienstag Nachmittag war es endlich soweit. Der Start der AG verzögerte sich nämlich, da dieses Internet wohl gar nicht so einfach in Klassenzimmer zu bekommen war. Wir waren vielleicht 5-6 Jungs (bei 600 Schüler*innen insgesamt), und vor uns stand ein schmächtiger bleicher Mitschüler, der wohl zwei Klassen unter uns war. Ich hatte ihn noch nie bemerkt. Auf jeden Fall wurde er ganz nervös und erklärte uns aufgeregt die Grundlagen des PCs. Also wie schaltet man einen PC ein, wie meldet man sich mit einem Passwort an, und wie fährt man den PC wieder runter. Dafür haben wir damals tatsächlich eine ganze Stunde gebraucht. Nichts war selbstverständlich. Jeder durfte mal den PC anschalten, sich anmelden (mit dem AG-Zugang natürlich) und den PC wieder runterfahren. Ihr glaubt es mir vielleicht nicht, aber für einige war das eine schier unlösbare Aufgabe. Aber dank meiner Amiga Skills war das für mich kein Problem.

Netcrawlen mit Netscape

In der zweiten Stunde zeigte man uns, wie man sich in dieses Internet einwählt, bzw. den Browser aufruft. Ich meine es war Netscape. Dann durfte man Suchbegriffe für Netcrawler, DIE Suchmaschine, vorschlagen. Selbst an den PC durften wir nicht, wir standen hinter dem schmächtigen Jungen und schauten ihm über die Schultern. Anfangs war noch ein Lehrer dabei, der aber relativ schnell wieder ins Lehrerzimmer zum Rauchen verschwand. Ja, das durfte man damals noch. Und was machen pubertierende Jungs, wenn sie alleine gelassen werden? Richtig geraten! Man begab sich auf die Suche nach Mädels. Er zeigte uns den Pro7-Chat. Halleluja! Da war sie, die große weite Welt, die mein Leben verändern sollte!

Am Rande der Legalität

Aber wie sollten wir alle an zwei oder drei PCs chatten, von denen nur einer ans Internet angeschlossen war? Der AG-Leiter hatten einen unschlagbaren Tipp für uns: Die Bibliothek der Uni! Dort gab es öffentlich zugängliche PCs zur Recherche für die Studierenden. Wenn man es schaffte, erwachsen genug auszusehen und sich an der Anmeldung vorbeizuschleichen, konnte man sich dort einfach an einen freien PC setzen. Da ich nur ca 15 Minuten von der Uni entfernt wohnte, könnt Ihr Euch vorstellen, wo ich ab diesem Zeitpunkt jeden Nachmittag zu finden war.

Wie der Pro7-Chat mein Leben nachhaltig verändert hat

Ich war 16-17 Jahre alt und konnte mich auf einmal mit Menschen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum unterhalten. Ich konnte sein, wer ich wollte oder besser: Ich konnte endlich sein, wer ich wirklich war. Nachdem ich alle Chaträume durchprobiert hatte, landete ich deshalb immer wieder im Gay-Chat. Ich war neugierig oder hatte einfach ein Gefühl, wo ich hingehöre. Dort chattete ich erstmal anonym und lernte, dass ich nicht alleine auf der Welt so fühle. Irgendwann lernte ich dort tatsächlich jemanden aus meiner Heimatstadt kennen, der mir den Tipp gab, dass es regionale Chaträume beim mirc gab. Dieses Chatprogramm gab es auch auf den Unirechnern.

Auf in eine neue Welt

Was? In Konstanz gab es noch mehr Homos? Und wie! Es dauerte natürlich nicht lange und ich hatte meine erste Internetliebe. Es dauerte ein paar Wochen, bis ich mich traute ihn irl zu treffen, aber es war natürlich ein Reinfall – mein erster Internet-Fake. Er war deutlich älter als gesagt und die Beschreibung des Äußeren wich auch deutlich von der Realität ab. Nachdem ich mich aber dieses erste Mal überwunden hatte, mich mit jemandem zu treffen, gab es kein Halten mehr und ich tauchte in eine neue Welt ein. Meine neue Welt. Mit Onlinedating fing also mein Internetleben an, aber da ich die Bekanntschaften immer auch irl treffen wollte zum Reden *hüstel*, verlagerte sich das Dating in die Clubs.

Und heute

Onlinedating ist für die queere Community natürlich immer noch ein riesen Ding, denn vor allem in ländlichen Regionen oder wenn man ungeoutet ist, ist das fast die einzige Möglichkeit mit Gleichgesinnten in Kontakt zu treten. Auch das schnelle anonyme Gespräch *hüstel* ist natürlich Dank Grindr und Planet Romeo für viele enorm wichtig. Da ich nun seit über 20 Jahren glücklich vergeben bin, ist das für mich kein Thema mehr.
Dennoch nutze ich das Internet irgendwie permanent. Ich höre darüber Musik, lasse mich von neuem Nerdkram begeistern, shoppe online und bin vor allem mit Freunden und Familie über alle sieben Weltmeere hinweg in Kontakt. Die Welt ist für mich einerseits soviel kleiner, weil digital erreichbar geworden. Sie ist aber auch soviel gewachsen, weil ich immer mehr Dinge kennenlerne, die ich unbedingt sehen muss.

Aber damals, als junger Gay im beschaulichen Konstanz, hat mir das Internet das Leben gerettet.

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